Nach einem tödlichen Verkehrsunfall zu zahlendes Hinterbliebenengeld bestimmt sich nach richterlichem Ermessen

Das Hinterbliebenengeld ist durch die Gerichte frei zu bemessen. Dabei ist abzuwägen, dass das Hinterbliebenengeld nach der Gesetzesbegründung hinter den pathologisch nachgewiesenen Schockschäden zurück bleiben sollte, gleichzeitig aber die psychischen Beeinträchtigungen als Verletzungen immaterieller Rechtsgüter rechtlich habe aufgewertet werden sollen. Eine Kommerzialisierung persönlicher Schicksalsschläge soll dabei aber vermieden werden. Es bedarf insoweit einer genauen Prüfung der persönlichen Situation der Hinterbliebenen in Kombination mit den Zumessungserwägungen aus dem Schmerzensgeldrecht

Sachverhalt:
Die Kläger machen Hinterbliebenengeld und Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang geltend. Im Juli 2017 war der Verstorbene auf seinem Motorrad unterwegs gewesen als der Beklagte unter Missachtung des Vorfahrtsrechts des Verstorbenen links abbog. Der Verstorbene hinterließ eine Ehefrau und zwei volljährige Töchter und zwei volljährige Söhne, die nunmehr die Kläger sind. Auch der Bruder des Verstorbenen, der am Unfalltag ebenfalls auf dem Motorrad hinter dem Verstorbenen gefahren war, beteiligte sich an der Klage. Der Beklagte wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, wobei das Gericht ein grob fahrlässiges Verhalten feststellte und mehrere Auflagen nach Jugendstrafrecht verhängte. Unter anderem sollte der Beklagte 2.000,- Euro an die Ehefrau „als Vorschuss auf ein noch zu vereinbarendes oder festzusetzendes Schmerzensgeld“ leisten. Mit der Klage begehrten die Kläger ein „Angehörigenschmerzensgeld“ sowie materiellen Schadensersatz.

Entscheidungsanalyse:
Das Landgericht gab der Klage teilweise statt. So führte es aus, dass die Kläger jeweils ein Hinterbliebenengeld verlangen könnten. Nach §§ 10 Abs. 3 StVG, 844 Abs. 3 BGB habe ein Ersatzpflichtiger im Falle der Tötung im Straßenverkehr einem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis werde für die Ehefrau gesetzlich vermutet, §§ 844 Abs. 3 Satz 2 BGB, 10 Abs. 3 Satz 2 StVG. Der Anspruch auf Hinterbliebenengeld bestehe aber nur dann, wenn der Hinterbliebene keinen eigenen Schmerzensgeldanspruch habe. Der Gesetzgeber sei offensichtlich davon ausgegangen, dass der Schmerzensgeldanspruch nach §§ 823, 253 Abs. 2 BGB den Schaden für das zugefügte Leid mit umfasse und diesen konsumiere. Einen eigenständigen Schmerzensgeldanspruch habe die Ehefrau des Getöteten nicht nachweisen können. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs könnten psychische Beeinträchtigungen wie Trauer und Schmerz beim Tod oder bei schweren Verletzungen naher Angehöriger, mögen sie auch für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant sein, nur dann als Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar seien und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgingen, denen Hinterbliebene bei der Benachrichtigung von dem Unfall eines nahen Angehörigen oder dem Miterleben eines solchen Unfalls erfahrungsgemäß ausgesetzt seien. Diese Rechtsprechung habe der Gesetzgeber mit der Einführung des Hinterbliebenengelds trotz der teilweise geäußerten Kritik nicht ändern wollen. Vorliegend sei für die Ehefrau des Verstorbenen ein Hinterbliebenengeld von 12.000,- Euro angemessen. Das Gesetz selbst billige den Hinterbliebenen eine „angemessene“ Entschädigung zu. Das bedeutet, dass das Gericht das Hinterbliebenengeld nach eigenem Ermessen, das es unter Billigkeitsgesichtspunkten ausübe, festsetze. Konkrete Vorgaben enthalte die Gesetzesbegründung nicht. Nur in der Kostenabschätzung lasse der Gesetzgeber erkennen, dass er von 10.000 Euro je Getötetem ausgehe. Dabei nehme der Gesetzgeber die Rechtsprechung zu Schockschäden als „Anker“. Nach der Gesetzesbegründung sollten die Gerichte den pathologisch nachgewiesenen Schockschaden mit 10.000,- Euro bemessen, sodass das Hinterbliebenengeld für das nicht pathologisch festgestellte Leid wohl mit einem geringeren Betrag bemessen werden solle. Es werde aber auch vertreten, dass mit der Einführung des Hinterbliebenengeldes insgesamt psychische Beeinträchtigungen als Verletzung immaterieller Rechtsgüter (der Seele, der Psyche) rechtlich aufgewertet hätten werden sollen, was sich auch auf die Entschädigungen auswirken solle. Andererseits solle eine Kommerzialisierung persönlicher Schicksalsschläge vermieden werden und daher moderate Beträge als angemessen zu sehen sein. Der Gesetzgeber berufe sich für die Einführung des Hinterbliebenengeldes auch auf eine Entscheidung des EGMR, wonach Hinterbliebenen für einen Todesfall infolge staatlicher Verantwortung ein entsprechendes Hinterbliebenengeld zuzusprechen sei. Auch in anderen europäischen Staaten sei ein Hinterbliebenengeld nicht unbekannt. Den wissenschaftlichen Aufarbeitungen des Problems sei der Hinweis zu entnehmen, dass jedenfalls ein Betrag von 10.000,- Euro eine Richtschnur für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes sei. Rechtsvergleichend falle der Betrag eher noch niedrig aus. Bezogen auf das deutsche Recht gehe das Gericht zunächst von § 253 BGB aus, wonach immaterielle Schäden nur im Ausnahmefall mit Geld aufzuwiegen seien. Ein weit über 10.000,- Euro hinausreichender Betrag würde der Rechtsprechung zu den „Schockschäden“ widersprechen und das gewachsene Gefüge der Schmerzensgeldzuerkennung strapazieren. Es könne nicht sein, dass Schockschäden als unmittelbare Beeinträchtigung einen geringeren Ersatzanspruch auslösten als die hier zu erörternde Reflexbeeinträchtigung. Auf der anderen Seite seien die Beeinträchtigungen durchaus anerkannt und vom Gesetzgeber ein Ersatzbedürfnis gesehen worden. Es bestünden insoweit deutliche Parallelen zum Schmerzensgeld in § 253 Abs. 2 BGB. Hinsichtlich des Schmerzensgeldes habe der Bundesgerichtshof dem Anspruch eine doppelte Funktion zuerkannt – eine Ausgleichs- und eine Genugtuungsfunktion. Es erscheine auch sachgerecht, diese beiden Funktionen (sowie im Einzelfall auch weitere Funktionen wie den Präventionsgedanken) bei der Bemessung zu berücksichtigen. Wie das Schmerzensgeld sei auch das Hinterbliebenengeld auf eine „billige“ oder, im modernen Sprachgebrauch, „angemessene“ Entschädigung gerichtet. Dieser Begriff eröffne dem Gericht jedoch eine Wertungsmöglichkeit. Darin sei der Auftrag enthalten, alle maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Hätte der Gesetzgeber eine gleichförmige Entschädigung gewollt, wäre es ihm unbenommen gewesen, einen konkreten Betrag festzusetzen, wie es in anderen Rechtsordnungen teilweise geschehen sei. Indem der Gesetzgeber dem Gericht aber die Bemessung nach Billigkeit anvertraue, erscheine es konsequent, die hierzu ergangenen Entscheidungen zum Schmerzensgeld analog auf das Hinterbliebenengeld anzuwenden. Dabei möge die Genugtuungsfunktion bei einer verschuldensunabhängigen Haftung oder leichter Fahrlässigkeit in den Hintergrund treten. Das heiße aber nicht, dass diese Funktion nicht in anderen Fällen in die Bemessung des Hinterbliebenengelds einfließen könne. Zu Gunsten der klagenden Ehefrau sei zu berücksichtigen, dass sie über dreißig Jahre mit dem Verstorbenen verheiratet gewesen sei und mit diesem ein klassisches Familienmodell mit Aufteilung in Ernährer und Haushaltsführende gelebt habe. Hieraus entspringe gegenseitiges Vertrauen und wohl auch eine finanzielle Abhängigkeit, was sich eher anspruchserhöhend auswirke. Mindernd wirke sich das fehlende Eigenerleben des Unfalls aus sowie der Umstand, dass es wenige gemeinsame familiäre Unternehmungen gegeben habe. Beim Beklagten sei erhöhend zu berücksichtigen, dass ihm im Strafurteil grobe Fahrlässigkeit zur Last gelegt werde. Nach Abwägung sei ein Betrag von 12.000,- Euro angemessen. Dieser Betrag werde den Vorstellungen des Gesetzgebers gerecht, liege international im unteren, aber noch vertretbaren Bereich und füge sich in die Rechtsprechung zum Schockschaden ein. Für die volljährigen Kinder sei nach diesen Maßstäben ein Hinterbliebenengeld von jeweils 7.500,- Euro angemessen. In die Erwägung fließe ein, dass die Kinder, da jünger, nicht genauso lange mit dem Getöteten zusammengelebt hätten wie die Ehefrau. Außerdem seien die Kinder sämtlich über 20 Jahre alt. Die Zeit, in der die Kinder auf die Fürsorge des Vaters angewiesen waren und mit ihm üblicherweise in einem gemeinsamen Haushalt lebten, sein vorbei. Eine Differenzierung danach, ob Kinder noch zu Hause lebten oder nicht, verbiete sich, da unklar sei, ob dies letztlich einer engen Bindung oder anderen Umständen geschuldet sei, wobei den ausgezogenen Kindern zudem schwer zu vermitteln sei, warum sie ein niedrigeres Hinterbliebenengeld zugesprochen bekommen sollten als die Geschwister. Der Bruder schließlich könne ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 5.000,- Euro beanspruchen. Der Gesetzgeber habe bewusst eine enge Grenze gezogen, um eine uferlose Ausdehnung des Hinterbliebenengeldes zu verhindern. So sei ein Näheverhältnis über die Tiefe und Intensität freundschaftlicher Beziehungen in der Sozialsphäre hinaus erforderlich. Zwar lebten die Geschwister weit voneinander entfernt, ein hinreichendes Näheverhältnis sei aber belegt worden. Geschwister des Verstorbenen würden auch ausdrücklich in der Gesetzesbegründung als mögliche Anspruchsberechtigte benannt. Hier sei zudem maßgeblich, dass er den Unfall direkt miterlebt habe.

Urteil des LG Tübingen vom 17.05.2019, Az.: 3 O 108/18

Praxishinweis:
Diese Entscheidung des LG gehört wohl mit zu den ersten, die sich mit dem vergleichsweise neuen Hinterbliebenengeld befasst, das vor rund zwei Jahren ins StVG aufgenommen worden ist. Entsprechend groß scheint noch die Unsicherheit und entsprechend vage wirken die Ausführungen bisweilen. Besonders schwer tut sich das Gericht dabei, den Anspruch zu beziffern, da es auf der einen Seite einen Schockschaden, der hier nicht erwiesen war, verneint, andererseits aber davon ausgeht, dass das Hinterbliebenengeld eigentlich unter den hierzu anerkannten Grundsätzen bleiben müsste, um dann letztlich doch mehr aus zu urteilen als es mutmaßlich für einen Schockschaden gegeben hätte. Hier bedarf es sicherlich noch einiger Urteile, bis eine deutliche Richtung erkennbar wird. Auch das Bewerten der familiären Zustände scheint in diesem Zusammenhang etwas fragwürdig.